Eine vertane Chance?
Mit dem Draghi-Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas wollte die EU im vergangenen Jahr ein Signal setzen: Europa müsse aufholen – technologisch, wirtschaftlich und geopolitisch. Der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi hatte das Mandat, einen umfassenden Plan zu entwickeln, um Europas Rückstand gegenüber den USA und China zu verringern. Die Diagnose ist treffend: Europas Produktivitätszuwachs stagniert, die technologische Abhängigkeit wächst und Investitionen hinken hinterher. Doch die Lösungsvorschläge des Berichts bleiben hinter der Realität zurück.
Europas digitale Schwäche: Eine Frage der Souveränität
Europa hat über Jahre an technologischem Boden verloren. Während US-Konzerne wie Alphabet, Amazon und Microsoft globale Standards setzen und chinesische Tech-Giganten gezielt durch massive Staatsinvestitionen wachsen, ist Europa digital zu einem Importkontinent geworden. Über 80 % der digitalen Infrastruktur wird eingeführt, rund 70 % der zugrunde liegenden KI-Modelle stammen aus den USA. Europas eigene Wettbewerber? Bisher kaum in Sicht. Das gefährdet nicht nur die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, sondern zunehmend auch die politische und militärische Souveränität.
Der Draghi-Bericht: Richtige Zahlen, zu wenig Vision
Der Draghi-Bericht nennt ein jährliches Investitionsdefizit von rund 750–800 Mrd. Euro. Doch er verfehlt das eigentliche Problem: Es fehlt nicht nur an Kapital, sondern an strategischer Ausrichtung. Investitionen dürfen kein Selbstzweck sein – sie brauchen ein klares Ziel. Was Europa fehlt, ist eine zielgerichtete Innovationspolitik, wie sie in China längst gelebte Realität ist. Statt lediglich Märkte zu reparieren, muss die EU sie aktiv gestalten. Eine zukunftsfähige Industriepolitik braucht einen Staat, der nicht nur reguliert, sondern als strategischer Investor agiert und Missionsziele definiert.
Deregulierung als Lösung? Eine Fehlannahme
Ein zentraler Punkt des Draghi-Berichts ist die Forderung nach weniger Regulierung. Vorgeschlagen wird ein neuer Vizepräsident der EU-Kommission mit dem Auftrag zur „Vereinfachung“. Doch die Idee, dass weniger Regulierung automatisch zu mehr Innovation führt, ist trügerisch. Intelligente Regulierung – etwa in Form verbindlicher Standards für Dateninteroperabilität oder KI-Transparenz – kann Innovation sogar gezielt fördern. Der Fokus auf Deregulierung greift daher zu kurz.
Europas staatliche Kapazitäten: Unterschätzt und unterfinanziert
Ein zentrales Defizit des Berichts: Er blendet die Rolle des Staates als aktiven Transformationsmotor weitgehend aus. Staatliche Fähigkeiten – etwa zur strategischen Planung, Datenhoheit oder zur Umsetzung komplexer Digitalvorhaben – müssen gezielt gestärkt werden. Statt den Staat zu verschlanken, wie es derzeit auch in den USA populistisch gefordert wird, müsste Europa seine Verwaltung modernisieren und auf die digitale Zeitenwende ausrichten. Ohne handlungsfähige Institutionen bleiben selbst ambitionierte Investitionsprogramme zahnlose Papiertiger.
Eine echte Digitalstrategie: Investieren, schützen, aufbauen
Ein nachhaltiger europäischer Weg setzt auf drei Säulen:
- Zielgerichtete Investitionen: Projekte wie „EuroStack“, die ein europäisches KI- und Cloud-Ökosystem aufbauen wollen, sind ein guter Anfang. Sie müssten jedoch mit mindestens 300 Mrd. Euro gefördert werden – über zehn Jahre hinweg.
- Digitale Schutzmechanismen: Europa braucht einen funktionierenden „Firewall“-Ansatz, der es verhindert, dass ausländische Tech-Giganten allein von europäischen Investitionen profitieren. Möglich wäre dies durch Marktzugang nur bei Daten- und Technologieteilung oder durch Joint-Venture-Pflichten mit europäischen Partnern.
- Starke Regulierung und Antitrust-Politik: Um digitale Monopole zu verhindern, braucht es konsequente Fusionskontrolle und ein klares Nein zu Übernahmen europäischer Technologieunternehmen durch außereuropäische Akteure.
Fazit: Wettbewerbsfähigkeit braucht mehr als Investitionen
Europas wirtschaftliche und digitale Zukunft hängt von seiner Fähigkeit ab, nicht nur Geld zu mobilisieren, sondern dieses strategisch und souverän einzusetzen. Der Draghi-Bericht hat wichtige Impulse geliefert – doch ohne eine mutigere Ausgestaltung droht er, in technokratischem Klein-Klein zu versanden. Europas Antwort auf amerikanische Dominanz und chinesische Entschlossenheit darf nicht nur defensiv sein. Sie muss auf eigenen Prinzipien beruhen – mit Innovationskraft, fairer Regulierung und digitaler Souveränität.
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